Vor etwas über dreißig Jahren saß ich in meinem Zimmer und schrieb einen hoffnungsvollen Brief an den Deutschen Skiverband (DSV). Im Radio hatte ich von einer tollen Wintersportart gehört, und Fotos davon in der Zeitung gesehen (wir hatten damals keinen Fernseher). Ich war zu jener Zeit bereits Leistungssportlerin.
Mit einer verkullerten Rolle vorwärts im Alter von fünf Jahren wurde ich fürs Geräteturnen angefixt und nahm einige Jahre später an lokalen und regionalen Wettkämpfen teil. Dass ich einmal ein Training ausfallen lassen musste, weil die Topflappen für meine Patentante zu Weihnachten noch immer nicht fertig gehäkelt waren, habe ich meiner Mutter lange nicht verziehen. Topflappen! Sie hatte damals wenig Sinn für das Wichtige im Leben, fand ich. Trotzdem entflammte ich jetzt für einen neuen Sport: das Skispringen.
Die Winter waren bezaubernd bei uns – das verschneite Siegerland, der tiefe Pulverschnee und die schwer beladenen Bäume des Rothaargebirges gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit und Jugend. Skifahren fand ich allerdings furchtbar. Meine Familie gehörte zu der seltenen Spezies, die nicht Abfahrtski fuhr, sondern Langlauf. Was für ein Grauen. Mein Vater war ein echter Crack und fuhr immer Hunderte Meter voraus, bald dahinter meine Mutter, die sich dauernd umdrehte und rief: “Nun kommt doch endlich!” Irgendwann kam ich (in meinen viel zu kleinen Schuhen), und Hunderte Meter hinter mir schleppte sich meine Schwester ermattet durch die Kälte. Es war harte Arbeit, dieses Langlaufen. Doch die Momente, in denen ich kurz stillstehen, die tiefgefrorenen Füße vergessen und einen Blick über weithin unberührten Schnee in die ruhige Landschaft werfen konnte, sind mir unvergessen. Noch heute stehe ich wie angewachsen am Fenster, wenn draußen endlich dicke Flocken fallen und die ganze Welt für einen Moment in dieser seltenen Stille versinkt.
Gebären, nicht Springen!
Und nun war da dieser Sport, der dem Langlauf ein Ende setzen konnte! Ich schrieb also voller Hoffnung an den DSV und bekam auch tatsächlich Antwort (damals bekam man überall noch Antworten auf Anfragen). Leider, schrieb mir der damalige DSV-Sportdirektor Helmut Weinbuch, sei das Skispringen für Frauen nicht erlaubt. Ihr Körper, insbesondere das Becken, sei zum Gebären von Kindern gebaut und nicht dazu geeignet, die Wucht des Aufsprungs am Hang auszuhalten.
Ich bin in Biologie nie die ganz große Leuchte gewesen, doch diese Antwort erschien selbst mir ausgemachter Unsinn zu sein. Ich hatte aber auch leider keine Ahnung, wo die nächste Skisprungschanze war, zu der ich einfach mal hätte hinfahren und es ausprobieren können (ich vermutete sie irgendwo in Süddeutschland; sie lag jedoch in Meinerzhagen, keine 50 Kilometer entfernt). Mit einer, selbst für Frauen meiner Generation noch ziemlich typischen Resignation bei Benachteiligung wurde ich also keine Weltklasse-Skispringerin. Doch den Sport habe ich weiter verfolgt. Wie viele Wochenenden habe ich seitdem am Bildschirm mitgezittert, geraten, wer wohl diesmal den Schanzenrekord einstellt, Ahonen oder [hier setzen Sie einfach den Namen irgendeines herausragenden Skispringers der letzten 20 Jahre ein], und ich habe mich immer gefragt, was der britische Skisprung„könig“ Eddie The Eagle jetzt wohl so macht. Jahrelang konnte ich alle Skispringer an ihrer Kinnpartie, an ihrem Sprungstil und an ihrer Körperhaltung im Auslauf erkennen – ich wäre prädestiniert für “Wetten, dass..?” gewesen.
Olympisches Gold! (trotz des Handicaps, eine Frau zu sein)
Und dann, Ende der 1990er las ich irgendwo: Frauen-Skispringen! Frauen?! Offensichtlich war Helmut Weinbuch nicht mehr in leitender Position beim DSV. Es war in den ersten Jahren sehr schwer, herauszufinden, wer überhaupt mitsprang, wo und wann die Springen stattfanden. Ergebnisse in der Zeitung? Kein Sterbenswort. Im Internet? Kaum zu finden. Zu den Hochzeiten von Weißflog, Thoma, Hannawald und Schmitt hofierte das Fernsehen die Männer, betrachtete aber das Frauen-Springen noch als Kindersport, denn sie sprangen schließlich nicht so weit (also nicht so “gut”) wie die Männer – dann würden ja Quoten und Sponsorengelder in den Keller gehen.
Da geht es den Skispringerinnen noch immer so wie den Fußballerinnen – wenn der Wettkampf überhaupt übertragen wird, dann höchstens zu Zeiten, wo noch kaum ein Mensch den Fernseher anschaltet, oder als Zusammenschnitt in der Pause des Männerspringens. Und bis heute fehlt fast nie der gönnerhafte Hinweis, dass die Frauen das ja (noch) nicht so lange, weit und gut können wie die Männer. So weit von Helmut Weinbuch sind sie gar nicht entfernt, diese EntscheiderInnen und ReporterInnen in den Medien. Immerhin gibt es jetzt eine eigene internationale Website zum Frauen-Skispringen.
Gestern dann der grandiose (vorläufige) Höhepunkt bei den Olympischen Spielen im russischen Sotschi: endlich, nach langen Kämpfen mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), durften zum ersten Mal auch die Frauen olympisch springen, wenn auch nur in einem einzigen Springen auf der Normalschanze (während die Männer sich außerdem auf der Großschanze und im Team messen dürfen). Die übertragende ARD wird es besonders gefreut haben, dass sich ausgerechnet eine Deutsche, die 22-jährige Carina Vogt, mit Sprüngen von 103 Metern und 97,5 Metern sensationell die Goldmedaille geholt hat. Selbst die New York Times berichtete darüber. Armer Helmut Weinbuch – ob er wohl sehr um ihr Becken gebangt hat?
12. Februar 2014