Als CDU-Generalsekretär Tauber 2017 einen unerträglich herablassenden Tweet veröffentlichte, erhielt er sofort den Spitznamen „Marie Antoinette“. Von ihr wird nämlich behauptet, sie habe über verhungernde Arme gesagt: „Dann sollen sie doch Kuchen essen.“ Ein historisches Zitat also – was soll daran frauenfeindlich sein?
Peter Tauber twitterte:
Wenn Sie was ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei Minijobs.
— Peter Tauber (@petertauber) 3. Juli 2017
In selbstherrlicher und realitätsferner Arroganz verhöhnte er damit jene, die sein Gehalt zahlen. Und dann dauerte es nur wenige Minuten, bis irgendwer ihn „Marie Antoinette“ nannte und dieser Spitzname weite Kreise zog.
Die Begründung für den Spitznamen war in den meisten Fällen ein überliefertes historisches Zitat: Als die französische Königin Marie Antoinette erfahren habe, dass die Armen Frankreichs sich nicht einmal mehr Brot leisten konnten, soll sie gesagt haben: „Dann sollen sie doch Kuchen essen.“
Das klingt erst einmal selbstherrlich, realitätsfern und arrogant, nicht? Also doch ganz passend für einen wie Tauber?
Nein, so einfach ist das leider nicht. Denn es gibt mehrere Probleme mit diesem „Zitat“:
1. Die Worte wurden falsch übersetzt.
Im Original soll Marie Antoinette gesagt haben:
„S’ils n’ont pas de pain, qu’ils mangent de la brioche!“ („Haben sie kein Brot, könnten sie Brioches essen.“)
Brioches waren zu jener Zeit ein sehr schlichtes Hefegebäck, einem Weißbrot nicht unähnlich und damit weit entfernt von etwas, das man auch damals schon Kuchen nannte. Die Autoren John Loyd und John Mitchinson schreiben sogar:
„Die Bemerkung könnte sogar ein Vorschlag zur Güte gewesen sein: „Wenn sie schon Brot wollen, dann gebt ihnen wenigstens was von dem guten.““
Aber es geht weiter:
2. Das ist gar kein Zitat von Marie Antoinette.
Es gibt einen einzigen Nachweis für diesen Satz: die „Bekenntnisse“ von Schriftsteller und Philosoph Jean-Jacques Rousseau. Dort schrieb er um 1766, eine „große Prinzessin“ habe diesen Satz gesagt. Marie Antoinette war zum Zeitpunkt 10 oder 11 Jahre alt.
Der Text lautet so (Quelle: Gutenberg-Projekt):
„Leider habe ich nie trinken können, ohne dabei zu essen. Wie es anstellen, um Brot zu bekommen? Es war unmöglich, mir etwas aufzuheben. Es durch die Dienerschaft kaufen zu lassen, hieß mich verrathen; auch hätte darin fast eine Beleidigung des Hausherrn gelegen. Es selbst zu kaufen, wagte ich nicht. Konnte wohl ein vornehmer Herr mit dem Degen an der Seite zu einem Bäcker gehen, um sich ein Stück Brot zu kaufen? War das möglich? Endlich erinnerte ich mich des Auskunftsmittels einer großen Prinzessin, der man sagte, die Bauern hätten kein Brot, und die antwortete: »Sie können ja Kuchen essen.« [s. Punkt 1, Anm. d. Red.] Abermals was für Schwierigkeiten, um dazu zu kommen! Lediglich in dieser Absicht ausgegangen, durchlief ich mitunter die ganze Stadt und ging an dreißig Pastetenbäckerläden vorüber, ehe ich bei einem eintrat.“
Mal abgesehen von der falschen Übersetzung: Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass es Marie Antoinette war, die diesen Satz gesagt hat. Zumal eine Zehnjährige wohl kaum als „große Prinzessin“ durchgehen kann.
Es gibt auch keinerlei Nachweis, wann sie diesen Satz und zu wem sie ihn gesagt haben könnte. Es gibt lediglich diese eine Erinnerung von Rousseau. Und mangels Belegen wissen wir bis heute nicht, ob er sich diesen Satz nicht sogar einfach ausgedacht hat.
3. Die Geschichtsschreibung über Frauen ist fragwürdig.
Was sich bereits in der Archäologie langsam durchsetzt, muss in der Geschichtsforschung erst noch Fuß fassen: die Erkenntnis, dass Geschichte – auch die der Frauen – fast ausschließlich von Männern aufgezeichnet und interpretiert wurde. Und dass sehr vieles davon möglicherweise falsch ist oder ganz neu bearbeitet und interpretiert werden muss.
Wir wissen heute, dass die archäologische Einordnung von Funden nicht automatisch eine korrekte Einordnung gewesen sein muss. Denn jene Männer, die die Funde interpretierten, taten dies auf Basis ihrer Weltanschauung und unter dem Einfluss ihrer Gesellschaftsordnung (in der Frauen unterdrückt und strukturell diskriminiert wurden).
Ein Frauengrab mit Machtinsignien? Das muss die Ehefrau sein!
Die üppigen Beigaben und Machtinsignien im Grab einer Frau wurden z. B. automatisch als die Beigaben für die Ehefrau eines männlichen Herrschers interpretiert. Dass sie selbst die Herrscherin gewesen sein könnte, kam den Archäologen selten in den Sinn. Erst seit den 1990er Jahren werden solche einseitigen, männlich-zentrierten Interpretationen verstärkt hinterfragt.
Dieses leider nur im besten Fall frauenblinde Weltbild beinhaltet bis in die heutige Zeit, Frauen als nachrangige, geringerwertige Wesen einzuordnen, selbst wenn sie Herrscherinnen waren. Sie machten vieles „falsch“, bloß weil sie Frauen waren. Sie hatten keine Ahnung von Politik (und „mussten“ daher von Männern beraten werden). Fehlentscheidungen wurden auf einen schlechten Charakter und weibliche Hirnlosigkeit zurückgeführt. Und sie waren natürlich nichts und niemand ohne einen Ehemann – heißt es.
Uralte Vorurteile klingen bis heute nach
Diese uralten Vorurteile klingen bis heute nach. Ein Jahrtausende alter, irrationaler Hass auf Frauen beeinflusst auch heute noch das Denken vieler. Leider auch vieler Frauen, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Es gab in der Geschichte der Menschheit zahllose männliche Herrscher, die in Saus und Braus lebten, deren Prunk angesichts notleidender Bevölkerung nicht nur dekadent, sondern schier unmenschlich war. Aber wer wird wieder und wieder (falsch) zitiert? Eine der wenigen regierenden Königinnen.
Fragst du aber die Zitierenden, ob ihnen für den Vergleich mit einem hochnäsigen deutschen Politiker kein hochnäsiger ehemaliger Herrscher einfalle, kommen sie höchstens einmal auf Napoleon. Und da ist auch schon Schluss. So offenbart sich das frauenfeindliche Denken, das solchen Zuschreibungen zugrunde liegt.
Viel Verständnis für männliche Herrscher
Bei männlichen Herrschern wird ihr Hang zum Prunk fast nie zum Thema gemacht. Stattdessen werden sie bis heute als Kriegsherren gewürdigt, als jene, die ihre Landesgrenzen erweitert oder gesichert haben. Als jene, die irgendetwas Modernes eingeführt und Gutes bewirkt haben.
Und es wird viel Verständnis gezeigt, wenn die Herrschenden eine schwierige Kindheit hatten – man denke nur an Friedrich den Großen, dem man bis heute seinen Frauenhass (sic) und seine Hartherzigkeit anderen Menschen gegenüber nachsieht. Er hatte es halt nicht leicht, heißt es dann, ist doch klar, dass er dann hart wurde.
Frauen wird nichts nachgesehen
Aber an was erinnern sich alle, wenn sie an Marie Antoinette denken? An Kuchen, angeblich ausschweifende Liebschaften, üppigen Luxus, einen angeblich negativen Einfluss auf ihren Mann, angeblich brüskierte Angestellte, verarmte und angeblich wütende Untertan_innen, Enthauptung, Massengrab.
Es scheint, über diese Frau gibt es nichts Positives zu sagen. Und es ist völlig unerheblich, ob irgendetwas an all dem Negativen überhaupt wahr ist. Marie Antoinette wie allen anderen Frauen wird nichts entschuldigt.
Und es wird weiterhin übersehen, dass es jahrhundertelang eben fast ausschließlich Männer waren, die Marie Antoinette und ihr Handeln vor einem männerzentrierten Hintergrund einordneten und derart negativ bewerteten. Frauen beurteilen das Leben und Agieren dieser Königin durchaus anders, wie beispielsweise die Marie Antoinette-Biografie von Antonia Fraser zeigt.
4. Warum wurde Peter Tauber ein weiblicher Spitzname gegeben?
Weil Marie Antoinette nun mal die mit dem Kuchen war? Weil es keinen Mann gab, der ähnlich prunksüchtig und maßlos war und genauso wenig Rücksicht auf die Armen der Bevölkerung nahm? Weil Marie Antoinette all diese Männer halt übertrumpft hat?
Nein, Peter Tauber behielt den weiblichen Spitznamen trotz des falschen Zitats, trotz der einseitigen, frauenfeindlichen Geschichtsschreibung aus nur einem einzigen Grund: weil eine weibliche Bezeichnung auch in unseren Zeiten, in unserer Gesellschaft, immer noch eine der schlimmst vorstellbaren Beschimpfungen für einen Mann ist.
Ein Mann, der wie eine Frau handelt – schlimmer geht’s offenbar kaum. Welche unendliche Frauenfeindlichkeit sich dahinter verbirgt, muss ich wohl nicht ausführen.
5. Warum sollte man nun vorsichtig sein mit solchen „Zitaten“ und Spitznamen?
Wenn nachweislich falsche Zitate ohne auch nur die simpelste Recherche oder sogar im Wissen um ihre Falschheit weitergetragen werden und sich damit falsche Informationen dauerhaft im Gedächtnis zahlloser Menschen festsetzen, ist das ansich schon nicht gut.
Aber wenn es dabei um Frauen geht, ist es fatal. Denn der nach wie vor sowohl offen als auch latent existierende Frauenhass wird mit solchen unbedachten Äußerungen, Spitznamen und der Weitergabe falscher Zitatzuschreibungen immer weiter am Leben erhalten. Nichts wird ihm entgegengesetzt.
Selbst Feminist_innen nutzten diesen Spitznamen
Das Beispiel von „Peter ‘Marie Antoinette’ Tauber“ zeigt, wie wenig das Ausmaß der strukturellen Diskriminierung von Frauen tatsächlich in den Köpfen der Menschen angelangt ist. Es zeigt, wie wenig bewusst sich viele des Frauenhasses sind, auch Frauen. Sogar Feminist_innen nannten Peter Tauber „Marie Antoinette“ oder retweeteten Tweets mit diesem Spitznamen und fanden nichts dabei.
Wenn wir jemals irgendetwas an der Benachteiligung der Frauen ändern wollen, dann reicht es einfach nicht, bei den ganz großen Themen anzufangen.
Wir müssen auch das Kleine hinterfragen, die Spitzen, das Unbedachte, schnell Dahingesagte. Die stereotypen Boshaftigkeiten, die sich hinter Platitüden oder häufig gebrauchten Redewendungen verbergen. Hinter Sarkasmus, Zynismus und „Witzen“.
All diejenigen Dinge, die zunächst vielleicht gar nicht frauenfeindlich aussehen. Die aber bei näherem Hinschauen vor Frauenfeindlichkeit nur so strotzen. Wie das falsche Zitat „Dann sollen sie doch Kuchen essen“ und die Vergabe eines weiblichen Spitznamens an einen Mann.