„Du, setze dich da“, sagte der Mann. „Was du wolle?“
(aus: „Ramona Richter“ in „Hannover persönlich“)
„Können Sie nicht normal Deutsch mit mir sprechen?“, fragte sie.
Diese Szene, mit der mein Porträt von Ramona Richter beginnt, spielte sich vor einigen Jahren in einem Ordnungsamt in Hannover ab. Doch nicht nur dort – immer und überall sah sie sich mit den jämmerlichen Vorurteilen ihrer Mitmenschen konfrontiert. Wen wundert’s, wenn ein Mensch dann misstrauisch wird?

Vor unserer ersten Begegnung wartete sie auf mich vor ihrem Haus, eine kleine Frau mit lockigen schwarzen Haaren und einem bunten, langen Kleid. Ich erkannte sie sofort, denn sie sah genauso aus wie auf dem Foto auf der Website der niedersächsischen Beratungsstelle für Sinti und Roma. Als ich nun auf sie zuging, sagte sie lächelnd: „Na, haben Sie sich gedacht, dass ich das bin, weil ich die einzige Schwarze hier bin, was?“
Wir setzten uns in ihren Garten hinterm Haus und tranken in den folgenden Stunden jede Menge Kaffee. So misstrauisch sie zu Anfang gewesen war, so schnell öffnete sie sich nun. Ihr gefiel mein Konzept für „Hannover persönlich“, vielleicht spürte sie auch, dass ich ein ehrliches Interesse an ihrer Geschichte hatte. Mit unerwartet großem Vertrauen erzählte sie mir ihre Geschichte und die ihrer Familie. Ich habe damals geweint, als sie sie mir zum ersten Mal erzählt hat, und mir kommen noch heute jedesmal die Tränen, wenn ich bei einer Lesung aus ihrem Porträt lese. Ich frage mich bis heute, wie Menschen solche Erlebnisse überstehen können. Und doch sind es Erlebnisse, die, wie mir scheint, synonym für jene der meisten Sinti Deutschlands sind.
Fast alle Familienmitglieder ihrer Eltern wurden von den Nazis ermordet – Geschwister, Eltern, sogar Kleinkinder. Ramona Richter war ein Nachkriegskind und doch spürte sie ihr ganzes Leben lang die Folgen der Naziherrschaft. Sie wuchs in ärmsten Verhältnissen auf, wurde schon als Kind, das nicht anders aussah oder anders war als die anderen, ausgegrenzt, und ihr Vater, dessen erste Tochter im Konzentrationslager von den Nazis erschlagen worden war, hatte nun ein besonders wachsames Auge auf sie.
Nach dem Tod ihrer Mutter Berta Weiß trat Ramona Richter in deren Fußstapfen und engagierte sich mit großem Gerechtigkeitssinn in der Beratungsstelle für Sinti und Roma. Sie half, jugendliche Sinti von der Straße zu holen, half anderen Sinti bei Problemen mit Ämtern, und für viele Jugendliche war sie Respektsperson, Vertraute, Hilfe und Vorbild.
Im Juni 2013 ist Ramona Richter ganz plötzlich und entschieden zu früh gestorben. Welche Bedeutung sie für die Sinti Hannovers hatte, wurde mir erst auf ihrer Beerdigung so richtig klar. Die mit großen bunten Blumenkränzen geschmückte Friedhofskapelle war überfüllt, im Vorraum stand eine große Traube Menschen, und draußen warteten noch einmal so viele Menschen, um diese beeindruckende, starke Frau zu Grabe zu tragen. Erstaunlich viele jüngere Leute waren gekommen, um sich zu verabschieden und um ihrer Familie Kraft zu geben. Darunter so manch breitschultriger junger Kerl, der sich immer wieder die Tränen von den Wangen wischte, während eine kleine Kapelle aus Geige, Kontrabass und Klarinette traurige Weisen spielte.
Ramona Richters Bild steht vor mir, und ich höre noch immer ihre markante Stimme, während ich dies schreibe. Ihr Porträt befindet sich genau in der Mitte meines Buches „Hannover persönlich“. Ich bin froh, dass ich sie kennenlernen durfte, und ich bin froh, dass sie ihren Platz in der Mitte meiner vierzehn Porträtierten für immer behalten wird. Ich bin ihr für ihre Offenheit und ihr Vertrauen sehr dankbar, und meine Gedanken sind in dieser schweren Zeit insbesondere bei ihrem Vater, ihren Kindern und Enkelkindern.
05. September 2013